Söder in Aiwanger-Affäre: Geschichtesvergessen: Für die Macht opfert er alles

Um das Ausmaß des aktuellen Falls von Markus Söder zu begreifen, muss man sich zurückversetzen ins Jahr 2016. Damals besuchte Söder die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Dort wird der sechs Millionen Juden gedacht, die während des Holocausts ermordet wurden, unter anderem in Auschwitz. Söder schrieb in das Gästebuch: „Wir dürfen niemals vergessen. Wir dürfen niemals wieder zulassen. Wir müssen Antisemitismus bekämpfen.“

Das klang eindeutig. Kein Platz für Judenhass. Söder war sehr deutlich.

Und heute? Heute, da sein Stellvertreter Hubert Aiwanger wegen eines antisemitischen Flugblatts aus seiner Schulzeit unter Druck steht und behauptet, sich nicht daran zu erinnern, ob er es verteilt hat?

In dieser Situation stellt sich Markus Söder tatsächlich in ein Bierzelt, imitiert Aiwanger mit einer Hitler-Stimme und dem rollenden „R“: „Ich werde in München mal auf den Tisch hauen!“ Im Klartext: Ach, der rechte Aiwanger mit dem antisemitischen Flugblatt. Haha, erinnert ein bisschen an Hitler, oder? Das kann man ja wohl sagen!

Es ist eine unentschuldbare Entgleisung, selbst für Söders Standards. Nur wenige Stunden später tritt Söder vor die Presse. Er bezeichnet das Flugblatt als „ekelhaft, widerlich, übelsten Nazi-Jargon“. Es sei „nicht nur eine bloße Jugendsünde“. Es wirkt kurz so, als ob die Koalition vor dem Ende steht. Doch nicht mit Markus Söder.

Er sagt, Aiwanger solle die Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen. Man habe ihm 25 Fragen gestellt, die er schriftlich beantworten solle. Dann betont Söder: „Die Zusammenarbeit mit den Freien Wählern wollen wir fortsetzen, es gibt keinen Anlass, daran etwas zu ändern.“

Mit diesem Schritt entkommt Söder seiner politischen Zwickmühle. Und um sicherzustellen, dass jeder es versteht, sagt er am Ende: Der „Ball“ liegt nun bei Aiwanger. Ja, Zusammenarbeit ist möglich, aber zuerst muss Aiwanger für Klarheit sorgen. Bislang hat sich Aiwanger nur sehr spärlich geäußert; sein Bruder behauptet, er habe das Flugblatt verfasst. Söder setzt keine Frist, aber die Antworten sollen bald kommen. Theoretisch könnte sich alles bis zur Landtagswahl hinziehen – und Söder müsste die Koalition nicht auflösen.

Es ist eine Art des Hinauszögerns, des Zurückspielens. Das ist also Söders Umgang mit dieser Affäre. Es zeigt, wie wenig Aiwanger zur Aufklärung beiträgt, durch sein Schweigen in den letzten Tagen. Am Montag sagte er noch zu Journalisten, die Flugblatt-Affäre sei „nicht so wichtig, wie Sie meinen“.

Söder fordert nun Antworten, wartet aber ab. Es ist ein lockerer Umgang mit Antisemitismus, der nur eine klare Ablehnung verdienen sollte. Stattdessen opfert Söder offensichtlich seine Werte für den Machterhalt. Sogar Witze über Hitler inklusive. Seine Worte aus dem Gästebuch von Yad Vashem erscheinen da wie leere Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Das ist geschichtsvergessen in höchstem Maße.

Wer ist das „wir“ im Flugblatt, wenn es nur einen Verfasser gibt?

Die Ungeheuerlichkeit von Söders Verzögern wird besonders deutlich, wenn man das Flugblatt von damals im Detail betrachtet. Es geht nicht nur um einen „Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz“. Das Pamphlet ist äußerst perfide. Es werden grausame Details ausgebreitet. Es geht um einen „Bundeswettbewerb“, wer „der größte Vaterlandsverräter“ ist. Die „Preise“ sind neben dem „Freiflug“: „Ein kostenloser Genickschuss“, „eine kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil“ sowie „eine Nacht im Gestapokeller, dann ab nach Dachau.“ Und: „Wir hoffen auf zahlreiche Teilnahme und wünschen den Gewinnern viel Vergnügen.“

Warum trägt ein 17-Jähriger so etwas bei sich? 1988 konnte man in Bayern bereits mit 17 Alkohol trinken und in Clubs feiern. Man ist kein Kind mehr. Und die Einbestellung beim Schulleiter, der Besitz von antisemitischen Flugblättern – war das nur ein Ausrutscher? Wer ist das „wir“ im Flugblatt, wenn es angeblich nur einen Verfasser gibt? Und wie kann man denken, die Ausreden wären glaubhaft, wenn Mitschüler sich an Hitlergrüße und Hitlerreden von Hubert Aiwanger erinnern?

Für Markus Söder scheint das nur eine Nebensache zu sein. Die Freien Wähler sind einfach die bequemste Option für ihn, um an der Regierung zu bleiben. Aiwanger hat sie praktisch zu einer Ein-Mann-Partei gemacht, seine Anhängerschaft ist gewachsen. Für Söder war das Regieren praktisch geräuschlos möglich. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit der Aiwanger-Partei so verlockend für den CSU-Chef.

Man kann es so sagen: Markus Söder ist politisch clever. Ein Mann, der offenbar seine Werte für den Machterhalt opfert, wirkt unberechenbar. Dass Söder sich mit 25 zu beantwortenden Fragen von Aiwanger zufriedengibt, ohne eine Frist zu setzen, ist nur ein Aspekt. Dass er zudem seinen Vize mit Hitler-Imitationen verhöhnt, zeigt, wie wenig ernst er die Sache wirklich nimmt. Mit einem solchen fehlenden Wertegerüst bleibt nur die Hoffnung, dass dieser Mann niemals Kanzler wird.

MS