Armutsbekämpfung

„Die Unterschicht“

Armut in Deutschland trotz wirtschaftlichem Aufschwung

Ich spreche von den Verlierern unserer Gesellschaft, von der neuen Unterschicht in unserem Land. In Deutschland gelten Menschen als arm, wenn sie mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen müssen. Das trifft heute auf über zehn Millionen Menschen zu. Darüber hinaus leben laut Statistik rund 2.5 Millionen Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Einer Studie Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge sollen 4 Prozent der Deutschen in den alten Bundesländern und sogar 20 Prozent in den neuen Bundesländern am Rande des Existenzminimums leben. Teuerungswelle, Arbeitslosigkeit, Kindernot und Hartz-IV-Folgen – Armut ist in Deutschland alltäglich geworden – und das in dem Land, das seit Jahren Exportweltmeister ist.

In unserer Gesellschaft hat sich eine Spaltung vollzogen – schleichend, hinter den Kulissen in der Vergangenheit – bereits in den „fetten Jahren“ beginnend, aber deutlich sichtbar in den „mageren Jahren“. Von Chancengleichheit kann keine Rede mehr sein. Nach wie vor sind Langzeitarbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit auf hohem Niveau. Rechnet man noch Beschäftigte in unterbezahlten Mini-Jobs, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, tausende Obdachlose und all jene Menschen dazu, die es aus Verzweiflung aufgegeben haben, sich arbeitslos zu melden, wird uns das „soziale Pulverfass“, auf dem wir alle sitzen, bewusst.

Ein ungeliebtes Thema für unsere Politiker; man spricht nicht gerne darüber, wenn man sich selbst durch Diätenerhöhung und Posten und Pöstchen monetäre Lichtjahre vom Mann auf der Straße entfernt hat. (Franz Müntefering (SPD): Das sei eine Formulierung „lebensfremder Soziologen“, „Es gibt keine Schichten in Deutschland“.)

Die Devise der „Polit-Elite“ lautet also „Aussitzen“. Das könnte sie – uns alle – jedoch teuer zu stehen kommen, vor allem im Hinblick darauf, dass Tausende von Kindern bereits in Armutsfamilien hineingeboren werden. Ihr Lebensweg steht von vornherein unter negativen Vorzeichen, denn Armut bedeutet Einschränkung und Verzicht in jeder Hinsicht – bezüglich Wohnungsverhältnisse, Ernährung, Kleidung, Besuch des Kindergartens, Förderung im schulischen Bereich usw.

Apropos Schule: Bei Schul-Eingangsuntersuchungen wurden Kinder aus armen Familien 7 Mal häufiger zurückgestellt als andere. Ihr Sprach- und Sozialverhalten, ihr Konzentrationsvermögen etc. entsprechen in vielen Fällen nicht den Anforderungen, und nur knapp ein Drittel schafft den Übergang in eine weiterführende Schule. „Unsere Gesellschaft verbaut Kindern aus armen Familien die Zukunft“, so Jörg Angerstein, Geschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes im Oktober 2006. Am Beispiel einer „Hartz-IV-Familie“ rechnet er vor, dass einem Kind pro Tag nur 2,59 Euro für Ernährung zur Verfügung stehen – ein „schreiendes Unrecht“, wie er beklagt.

Armut isoliert und stigmatisiert, denn man kann sich nichts leisten, was für den anderen Teil der Gesellschaft selbstverständlich ist. Gravierend für die Heranwachsenden ist die vorprogrammierte Ausgrenzung in der Schule: Wie soll man mithalten ohne Taschengeld, ohne „Status-Kleidung“ wie Jacken von Boss oder Schuhe von Nike – „Renommier-Klamotten“, die heute zur Akzeptanz unverzichtbar scheinen. Wie soll sich ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, wenn, aus Geldmangel auf erstrebenswerte Annehmlichkeiten verzichtet werden muss.

Geht es in unserem reichen Land den Armen schon schlecht genug, so kommt es auf Beschluss der Bundesregierung ab Januar 2007 „noch dicker“, denn das Erziehungsgeld wird durch das Elterngeld ersetzt – mit der Begründung, vor allem Frauen sollte die Möglichkeit gegeben werden, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Was sich so gut anhört – in einer „veraltenden“ Gesellschaft mit immer weniger Kindern soll der „Mut zum Kind“ gefördert werden – drängt arme Familien weiter ins soziale Abseits! Denn Bezieher niedriger Einkommen werden bestenfalls 14 Monate lang 300 Euro Elterngeld erhalten. Ein Kind armer Eltern ist der Bundesregierung anscheinend nicht mehr viel wert. „Kinder ja, aber bitte von den richtigen Eltern“ ist offenbar die Devise. Damit wird sehenden Auges ein „Armuts- und Bildungsproletariat“ herangezüchtet, mit unabsehbaren Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Arme Familien bilden den Nährboden für Gewalt: Unzufriedene, überforderte Eltern neigen zu lieblosen, rüden Erziehungsmethoden. Da ist es kein Wunder, wenn z.B. auch die Gewalt in den Schulen zunimmt.

An dieser Entwicklung ist zu einem Großteil eine Regierung schuld, die durch ihre neoliberale Politik der hemmungslosen Umverteilung von unten nach oben – Leistungskürzungen bei Gesundheit, Renten, bei Löhnen und Gehältern und sonstigen staatlichen Zuwendungen – in gesellschaftlicher Hinsicht nachgerade zerstörerisch wirkt.

„Die im Dunkel sieht man nicht “ möchte man mit Bert Brecht dieser verantwortungslosen Politikerkaste zurufen. Um wie viel mehr aber gilt dies Wort für die Tiere, deren Schicksal den Handlangern der Ausbeuter-Konzerne in Wirtschaft und Industrie keinen Pfifferling wert ist! Es ist derselbe Ungeist, der – im menschlichen Bereich – die Armen noch ärmer macht, und die Tiere in noch größerem Ausmaß versklavt, als dies ohnehin schon der Fall war.

Eine solche Politik bewirkt alles andere als ein friedliches Miteinander, im Gegenteil. Aber gerade deshalb ist es notwendig, das Ideal einer friedlichen Welt ohne Armut und ohne Leid in sich zu bewahren. Nur so gelingt es, nicht aufzugeben und Not da zu lindern, wo immer sie einem entgegenkommt – sei es bei Menschen oder bei Tieren. Wobei unbestritten sein dürfte, dass Letztere, als die Allerärmsten, nach wie vor der Hilfe am meisten bedürfen.