Tierschutzpartei: Wie alles begann

Dr. Ingeborg Gräßer

Dr. Ingeborg Gräßer, Gründungsmitglied, ehemaliges Bundesvorstandsmitglied und frühere Vorsitzende des Landesverbands Nordrhein-Westfalen schrieb am 27.09.2003 ihre ganz persönlichen Erinnerungen an den Vorlauf zur Parteigründung und die frühen Zeiten der Parteigeschichte:

 

Meine Eltern schenkten mir 1946 ein Buch über Tiere: „Wolf Dschingis“. Ein Nachkriegsdruck: schlechtes Papier, schlichte Schwarz-Weiß-Fotos. Der Autor war Bernhard Grzimek. Das Buch schloss mir eine Welt auf! Ich lernte daraus, Respekt vor allen Tieren zu haben, seien sie nach menschlichem Urteil nützlich oder schädlich. Als ich am 13. Februar 1993 mit acht anderen Personen in Bonn im Hotel Continental saß, um die erste politische Partei für den Tierschutz zu gründen, da war meine Teilnahme an der Gründung aus dem Geist von Bernhard Grzimek hervorgegangen. Ich hatte nämlich anfangs der 70er Jahre eine Sendung gesehen, die sich kritisch mit der modernen Nutztierhaltung befasste, welche ja nur auf höchsten Profit ausgerichtet war und bis heute geblieben ist, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Tiere.

Diese Sendung gehörte in die Reihe „Ein Platz für Tiere“ und war von Professor Grzimek veranlasst worden. Man sah darin scheußliche Szenen, Hennen auf Drahtgittern in Käfigen, Kälber und Schweine auf Spaltenböden, in Dunkelhaft! Ihr alle kennt inzwischen solche Bilder zur Genüge! Ich beschloss für diese wehrlosen Kreaturen zu kämpfen. Ich glaubte damals, am 13.11.1973, dass wir Tierfreunde diesen Kampf binnen drei Jahren gewinnen könnten. Jetzt sind fast 30 Jahre verstrichen, und noch immer tobt der Kampf.

1980 gründete ich in Witten an der Ruhr eine Jugendgruppe, aus der ich streitbare Tierschützer machen wollte. Am 26. Sept. 81, bei einem Jugendtreffen in Wuppertal, wurde uns ein Dr. Meister als Redner vorgestellt. Er war von der Firma Bayer Leverkusen beauftragt, den Kindern die Wichtigkeit und Richtigkeit von Tierversuchen zu erläutern. Sein Thema lautete: „Wie entsteht ein neues Medikament?“ Kaum hatte dieser Mann die ersten Sätze gesprochen, da erhoben die etwa 50 anwesenden Kinder, alles Tierschützer, ein lautes Geschrei: „Tierversuche sind grausam! Man darf sie nicht machen!“ Unter den Jugendlichen saß eine Dame mittleren Alters. Sie schrie zwar den Redner nicht nieder, aber sie erwies sich als Zwischenruferin und zeigte bei ihrem wiederholten Einspruch auffällige Kenntnisse in Wissenschaft und Medizin. In der Pause wurde sie mir als Frau Prof. Ingeborg Bingener vorgestellt. Ich kannte den Namen bereits. Ihr Wunschziel war, eine Gruppe von Erwachsenen zu sammeln, die gegen Tierlabore, Experimentatoren und gegen weitere Exzesse an Tieren massiv vorgehen sollten. Da sie in Hattingen, ich in dem nahegelegenen Witten, wohnte, ergaben sich fortan Telefonate und Treffen zwischen uns. Mir imponierte das ausgedehnte Wissen dieser Frau auch in organisatorischen Fragen. Sie wies in ihren Schriftsätzen und vielen Vorträgen nach, dass die EG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) unsere Landwirtschaft mittels Mammutverwaltung und unter dem Slogan „Wachsen oder Weichen“ kaputtmachen würde; und die Haupt-Leidtragenden dabei seien die sog. Nutztiere.

Das Tier im Recht – von Dr. Ingeborg Bingener

Am 23. Juli 1992 rief Ingeborg Bingener mehrmals bei mir an. Ihre Stimme war lebhaft: Es hätten sich bei ihr zwei Herren aus Augsburg gemeldet, Christian Petri und Egon Karp, die eine Partei für den Tierschutz gründen wollten, und außerdem zwei junge Männer, die Herren Gegner und Achenbach, die eine solche Gründung für dringend hielten. Ob ich bei der Gründung helfen und Beisitzerin werden wolle? Etwas unsicher sagte ich: „Ja!“ Frau Bingener rief daraufhin namhafte Tierschützer zusammen, während sie gleichzeitig ein Grundsatzprogramm verfasste. Sie war sehr stolz, es mir am 30. September 1992 vorlegen zu können; und sofort lasen wir es gemeinsam bei ihr in Hattingen durch. Dabei beauftragte sie mich, ein Rededuell bei Radio Ruhrwelle in Bochum zu führen, wobei ein Medizinprofessor namens Steinau vom Bergmannsheil die Tierexperimente gegen mich verteidigen werde. Es war eine Mutprobe für mich! Dass es mir gelang, seine Argumente kräftig zu widerlegen, stärkte mein Selbstvertrauen sehr; und ich trat fortan mutiger für unsere Partei ein.

Prof. Gräßer

Das erste Treffen aller an der Partei Interessierten fand am 25. Oktober 1992 in Hattingen, in der Gaststätte „Zur Börse“statt. Ich nenne einige Namen der Anwesenden: Basse, Balsam, Heinz E. Wolf, Karp, Lindner aus München, Achenbach und Gegner, die Zahnärztin Hallerbach-Redlin, aus Bayreuth ein Herr Liedl; dieser war mir schon Mitte der 80er Jahre begegnet, als er eine große Demo in Bayreuth gegen Tierversuche organisiert hatte, bei der auf dem Rathausplatz prominente Tierschützer – Ilja Weiß, Dr. Werner Hartinger, Dr. med. Walter Schmidt und Prof. Gräßer – überzeugende Ansprachen an die Zuhörer gehalten hatten. Ich erinnere mich heute noch an das schöne Pferd mit schwarzer Schabracke. Es wurde von Herrn Liedls Tochter am Zügel dem „Trauerzug für die Labortiere“ vorangeführt.

Zurück zum Vorgespräch in Hattingen: Es nahm auch ein Schweizer Tiermaler mit Namen Nägeli teil; er hatte kurz vorher eine Haftstrafe abgebüßt, weil er öffentliche Gebäude mit seinen Tiermalereien besprüht hatte.

Das alte Logo

Frau Prof. Bingener wurde aufgrund ihres Sachwissens als Bundesvorsitzende vorgeschlagen. Das Logo, ein Dreieck, umgeben von den Worten „Mensch – Umwelt – Tierschutz“ war bereits dem Grundsatzprogramm aufgedruckt, aber in der Dreiecksmitte fand sich das Kürzel MUT, welches im Verlauf des nächsten Halbjahres nicht mehr zu halten war. Als „Farbe“ wurde Weiß gewählt, schon deshalb, weil das preiswert wäre und weil sämtliche Farben, Rot, Grün, Schwarz, Gelb und Blau, bereits von den etablierten Parteien besetzt seien. Das Kürzel MUT zu führen wurde uns durch eine Firma des gleichen Namens untersagt, und nach langen Beratungen ersetzten wir es durch das sog. Kürzel „Tierschutzpartei“. Und dieser Name erwies sich als ausgesprochen griffig und bürgernah. Leider gibt dieses Kürzel aber immer wieder Anlass zu dem Missverständnis, es gehe bei unserer Partei nur um den einzigen Punkt Tierschutz. Wir sprachen bei dieser Veranstaltung auch das Grundsatzprogramm durch, das nach z. T. kontroversen Diskussionen verabschiedet wurde. Bei diesem ersten Treffen waren 15 Teilnehmer und Teilnehmerinnen anwesend. Wie zu erwarten, blieben nicht alle „bei der Stange“ – aus unterschiedlichen Gründen.

Egon Karp

Mit einem Fragebogen, der weiträumig verteilt wurde, testete Frau Bingener Ende 1992 die „Stimmung im Volk“. Die positiven Antworten, auch bereits einige Mitgliedsanträge, machten uns Mut, die Partei nun wirklich zu gründen. Diese Gründung geschah am 13. Februar 1993 in Bonn beim Hauptbahnhof im Hotel Continental, also vor gut 10 Jahren. Teilnehmer waren 9 Personen: Die Herren Karp, Petri, Lindner, Achenbach, Gegner – und die Damen Bingener, Ruckaberle, Gegner, Gräßer. Dann die Wahlen: Bingener wurde als erste Bundesvorsitzende einstimmig gewählt, ich trotz meiner Befangenheit zur zweiten Stellvertreterin vorgeschlagen. Mir schwebten vor allem gute Infostände vor – ein Feld, das ich schon reichlich beackert hatte. In Hamburg war unsere Gründung besonders lebhaft begrüßt worden. Dort meldete sich eine aktive Gruppe, die mit Hilfe von Karp und Bingener auf die Gründung eines dortigen Landesverbandes ausging. Inzwischen hatten sich die 9 genannten Gründer fast monatlich in deutschen Städten getroffen: März 1993: Heidelberg. April 1993: Augsburg. Juni 1993: Witten. In Hamburg kam es am 16. Juli 1993 tatsächlich zum ersten Landesverband, was mich mit großer Hoffnung erfüllte. Aber obwohl es die Hamburger Parteispitze in kurzer Zeit schaffte, für die Bürgerschaftswahl am 16. September 1993 alle Bedingungen zu erfüllen, war Frau Bingener, trotz des dabei erreichten Erfolgs von 0,3 %, nicht recht zufrieden. Ein solcher Stimmenanteil der noch völlig unbekannten winzigen Partei war allerdings ein durchaus respektables Ergebnis.

Demonstration der Tierschutzpartei

Im Jahr 1994 gab es 5 Gründungen von Landesverbänden: Niedersachsen, Schleswig-Holstein, NRW, Bayern, Baden-Württemberg. Im Jahr 1995 kam Hessen dazu, 1996 Sachsen-Anhalt, 1997 waren es gleich drei neue Verbände: Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen. Und 1998 schob unsere kleine Partei sich noch weiter nach Osten vor: Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern schlossen sich an. Wie viele tüchtige Tierschützer ihre Arbeitskraft in den Dienst der Sache gestellt haben, lässt sich gar nicht aufzählen! Könnten wir doch den gepeinigten „Nutztieren“ in den Folterkäfigen und den sargähnlichen Boxen mit Spaltböden, auf den endlosen Transporten, in den Laboratorien, irgendwie mitteilen, wie heftig für sie gestritten wird! Die Presse und das Fernsehen verweigern jedoch jede Unterstützung unserer Anliegen fast gänzlich, so dass wir nur durch Plakate und Infotische an die Bürger herankommen.

Gisela Bulla

Einen vorzüglichen Werbespot hatte Frau Bingener getextet und einer Münchener Werbefirma zur Verfilmung in Auftrag gegeben. Vor der Bundestagswahl 1994 haben ihn ARD und ZDF erstmals ausgestrahlt, leider nur vier Male und zu ungünstigen Sendezeiten. Große Parteien wie SPD und CDU bekamen dagegen etwa 40 Sendezeiten zugeteilt. Ich habe den Werbespot auf Video hier bei mir. Jedoch musste dieser Werbespot vier Jahre später zur 14. Bundestagswahl um eine halbe Minute verkürzt werden, was die neue Vorsitzende, die Autorin Dr. Gisela Bulla, übernahm. Frau Bingener fühlte sich hierdurch übergangen, was zu Meinungsverschiedenheiten führte und schließlich zur Folge hatte, dass Frau Bingener die Partei verließ. Leider gab es in den vergangen Jahren einige Meinungsverschiedenheiten unter Mitgliedern. Tierschützer sind ein streitbares Volk. Das ist gut; denn sie könnten sonst ihrer Aufgabe nicht ausreichend nachkommen, den Tieren zu helfen. Die Streitbereitschaft der Tierschützer hat aber auch eine negative

Plakat zur Landtagswahl BaWü 1996

Plakat zur Bundestagswahl 1994

Seite, denn manchmal führt sie in die falsche Richtung und schadet dem gemeinsamen Ziel. Unsere Partei besitzt heute Landesverbände in 13 Bundesländern. Zum Teil müssen diese Verbände neu aktiviert werden, denn aus unterschiedlichen Gründen ist die Parteiarbeit in einigen Bundesländern zurückgegangen oder gar zum Erliegen gekommen. Da wir in Bremen, Thüringen und im Saarland noch keine Landesverbände gründen konnten, rufe ich alle unsere Mitglieder und Freunde dazu auf: Helfen Sie, bitte, die fehlenden Landesverbände zu gründen, und unterstützen Sie die Anstrengungen, die schwächeren Landesverbände zu kräftigen! Die Entwicklung der Mitgliederzahlen ist (im Gegensatz zu anderen Parteien) weiter positiv verlaufen. Die Tierschutzpartei, die sich ja nicht ausschließlich um Tiere kümmert, sondern auch um die Menschen und die Umwelt, besitzt heute etwa 1000 Mitglieder. Diese Zahl finden wir zwar längst noch nicht zufrieden stellend. Aber als erfreulich ist es zu werten, dass unsere Partei bei allen Wahlen, an denen sie teilnahm, stets deutlich bessere Wahlergebnisse erzielen konnte als jeweils zuvor.

Zeitenwende

Die Partei hat sich weiter etabliert: Sie unterhält seit dem Jahr 2001 eine eigene Bundesgeschäftsstelle in Frankfurt/Main, welche Mitglieder, Freunde und Interessenten mit Rat und Tat unterstützt; und sie gibt seit Dezember 2000 eine eigene Zeitschrift heraus, die wir „ZEITENWENDE“ genannt haben; ein Informations- und Meinungsforum für Mitglieder und Interessenten! Wir alle sind aufgerufen, diese positive Entwicklung mitzutragen und nach Kräften zu fördern. Frau Dr. Gisela Bulla, der wir einige wichtige Bücher zum Thema

Jürgen Gerlach

Tiermissbrauch verdanken, hat auch als erste Vorsitzende in drei Wahlperioden (1995-1997-1999) unseren herzlichen Dank verdient, ebenso auch Herr Egon Karp, der als einziger außer mir die Parteigründung vor 10 Jahren noch persönlich miterlebt hat und der, als stellvertretender Parteivorsitzender, die Interimszeit zwischen Frau Bulla und Herrn Gerlach mit Engagement und Gewissenhaftigkeit überbrückt hat. Herrn Gerlach als dem derzeitigen Parteivorsitzenden danken wir für seine ruhige, ausgeglichene Führung in den oft aufregenden Phasen des Parteilebens.

Aber vor allem unsere Parteigründerin, Frau Ingeborg Bingener, wollen wir heute durch unser Gedenken ehren. Sie starb am 26. Januar 2001, 78 Jahre alt. Ich lese von ihren zahlreichen, sehr schönen Gedichten zum Thema „Tier-Elend“ eines vor, das mir stärksten Eindruck gemacht hat:

 

Dreiteilung der Gewalten

Hohes Gericht! Ich erhebe Klage

gegen Regierung und Gesetzgeber

und begehre ein Urteil,

dass Tiere nicht rechtlos sind!

Der Klage wird nicht stattgegeben,

weil Tiere rechtlos sind,

und weil kein Gesetz und kein Urteil

ihren Verbrauch verbietet.