Inklusion ja – aber bitte sinnvoll umgesetzt!

Am 29. August ist es in NRW wieder soweit: Kinder mit bunten Schultüten unter dem Arm, die mit strahlenden Augen und voller Neugier der Institution „Schule“ zustreben, beherrschen das Straßenbild, fröhliche Bilder von Schulanfängern und ihren Lehrerinnen und Lehrern springen uns aus der Tagespresse entgegen. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt – sehnsüchtig erwartet, aber auch voller Ängste und Zweifel und Erwartungen auf allen Seiten. Auch für die LehrerInnen jedes Mal eine Herausforderung.

Denn nicht alle Kinder sind aufgrund ihrer körperlichen oder seelischen Konstitution in der Lage, diese Erwartungen zu erfüllen. Kinder, die die nötige „Schulreife“ noch nicht mitbringen (siehe Elterninitiative „Petition zur Änderung des Einschulungsstichtages vom 30. September auf den 30. Juni“ von: Sylvia Montanino aus: 45279 Essen An: Petitionsausschuss des Landtags NRW & Ministerium für Schule und Bildung in: Nordrhein-Westfalen), Kinder mit körperlichen Einschränkungen, aber auch mit schweren psychischen Problemen werden genötigt, in viel zu großen Klassen, ungeeigneten Räumen, bei fehlender materieller und personeller Ausstattung dem Unterricht zu folgen. Mit der so genannten „Äußeren Differenzierung“ wird versucht, Kindern mit bereits zu dem Zeitpunkt offensichtlichen Schwierigkeiten gerecht zu werden. An vielen Schulen bedeutet das: täglich zwei Stunden separater Unterricht, den eine Sozialpädagogin oder/ und eine Sonderpädagogin erteilen (die wiederum auch nur in ihrer Fachrichtung ausgebildet sind) – alle in einer Gruppe zusammengefasst, trotz unterschiedlicher Probleme und Bedürfnisse. An eine „Innere Differenzierung“ (Kinder werden im Klassenverband von einer Sonderpädagogin unterstützt) ist an vielen Schulen nicht mehr zu denken, wenn eine Sonderpädagogin an einer Schule für vier bis fünf Klassen zuständig ist, vielerorts noch andere Schulen mitversorgen muss. Die restliche Zeit sind sie im Klassenverband „integriert“ – Kinder mit speziellen Ansprüchen bezüglich ihres Bedarfs an Unterstützung, Lerntempo und Zuwendung, aber auch hinsichtlich ihres Ruhebedürfnisses. „Integrationshelfer“ heißt da nun die Lösung, die aus dem Dilemma herausführen und Inklusion möglich machen soll – von den sozialen Diensten vermittelt und nach einer Kurzeinweisung auf die Schulen losgelassen: Menschen, zum Teil mit einer Begabung für Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf, zum Teil aber auch völlig ungeeignet und ohne die nötige Ausbildung und Erfahrung. Sie begleiten nun beispielsweise Kinder mit großen seelischen oder persönlichen Problemen, Kinder mit geistigem Entwicklungsbedarf, Kinder, die Emotionen ungehindert ausleben müssen, die teils große Aggressionen mitbringen. Für die Lehrer eine Stütze? Vielleicht – nach entsprechender Einarbeitungsphase. Diese Zeit müssen die Lehrer aber auch aufbringen. Zeitgleich soll der Lehrplan für die Kinder „ohne besonderen Förderbedarf“ erfüllt werden, worunter auch die Kinder mit „einfachen Schwierigkeiten“ wie Lern- und Konzentrationsschwäche, Unruhe, mit sozialen Problemen oder Migrationshintergrund, die dem Unterricht in deutscher Sprache noch nicht folgen können, fallen. Wer auf der Strecke bleibt, ist offensichtlich. Aber die Lehrer sind ja Schuld, wenn das Leistungsniveau absinkt. Die Forderung nach kleineren Klassen, besserer personeller, materieller und räumlicher Ausstattung bleibt ungehört – aus Kostengründen. In diesem Dilemma bleiben die Lehrer sich selbst überlassen. Zudem verstärken standortsinterne Faktoren (sozialer Brennpunkt, bildungsfernes Umfeld, Migration und Integration) diese Entwicklung noch. Kinder mit ungleichen Bildungschancen, weil sie aus einem ungünstigen Wohnumfeld stammen (siehe „Soziale Chancengerechtigkeit bei der Einschulung und beim Übergang in die weiterführenden Schulformen“ – Informationsschrift des Instituts für Bildungsrecht und Bildungsforschung e.V. Oktober 2015). Lehrer strengen sich an, strampeln sich ab, um dennoch guten Unterricht zu ermöglichen. So darf es nicht verwundern, dass Lehrer immer häufiger an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen, dass immer öfter Lehrer vorzeitig aus dem Schuldienst ausscheiden. Mit der hohen Beanspruchung im Unterricht gehen zudem immer höherer Dokumentationsaufwand sowie zusätzliche Arbeitsstunden (Elterngespräche und andere, notwendige Gespräche auch im Rahmen der Inklusion, müssen nach dem Unterricht geführt werden). Gewerkschaften und Lehrerverbände laufen bereits Sturm und warnen vor den Folgen. Da mag der drohende Lehrermangel als eine nahezu zwangsläufige Konsequenz erscheinen. Aber anstatt den Numerus Clausus zu senken, der dem Lehramtsstudium der Primarstufe zugrunde liegt, oder durch bessere Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten den Beruf attraktiver zu machen, setzt man auf Quereinsteiger. Sie werden das Kind schon schaukeln! Auch die Zahl der Lehramtsstudenten, die sich für den Studiengang Sonderpädagogik entscheiden, sinkt kontinuierlich, weil ihre Arbeitsbedingungen immer unattraktiver werden.

Zu der 2006 von der UNO-Generalversammlung in New Yorkverabschiedete und 2008 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, BRK) unter„Integrative Bildung, Artikel 24“ heißt es in einem Artikel unter anderem:

In der amtlichen deutschen Übersetzung wird ein integratives Bildungssystem[25] gefordert, in dem Behinderte nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden (Art. 24 (2) a der Konvention).

Inklusion, also der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung, wird in der UN-Konvention jedoch nicht explizit gefordert. Dennoch erscheint es in öffentlichen Diskussionen häufig so, als sei die Möglichkeit der gemeinsamen Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder in Allgemeinbildenden Schulen und der Besuch von Universitäten der zentrale Punkt dieses Artikels. In Österreich sind bis dato rund 50 % aller Schüler mit besonderem Förderbedarf in allgemeine Schulklassen integriert.

Zur Frage, ob aufgrund der Konvention nunmehr Sonderschulen für Menschen mit Behinderung noch zulässig sind, vertritt das Vereinigte Königreich in seiner Erklärung zu Art. 24 Abs. 2 lit. a und b des Übereinkommens die Auffassung:

„Das Allgemeine Ausbildungssystem im Vereinigten Königreich umfasst Regelschulen und Sonderschulen, die nach Auffassung des Vereinigten Königreiches gemäß dem Übereinkommen erlaubt sind.[36]“

Für die Richtigkeit dieser Ansicht des Vereinigten Königreichs spricht, dass nach Art. 24 Abs. 1 lit. b ein zu etablierendes „integratives Bildungssystem“ u. a. das Ziel zu verfolgen hat, „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre mentalen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen.“[37] Dies kann in bestimmten Fällen spezielle Bildungseinrichtungen erforderlich machen.

Schon jetzt warnen Pädagogen vor den Folgen „inklusionsgeschädigter Kinder und Lehrer“. Bereits 2010 war in einem Schreiben dazu zu lesen: Bereits die auch nur kurze Verweildauer eines Schülers/ einer Schülerin mit besonderem Förderbedarf in einer für sie/ ihn ungeeigneten Schulform führt zu gravierenden negativen Folgen für die kognitive Entwicklung wie Leistungsbereitschaft und -motivation, Selbstbewusstsein und –stärke.

Eltern, die auf die „Mogelpackung Inklusion“ hereinfallen, stellen ihren Irrtum häufig nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule fest. Nicht wenige Kinder müssen ihre weitere Schullaufbahn an einer Förderschule verbringen. Da wurde mal eben schnell etwas aus dem Boden gestampft, um die Konvention umzusetzen – ohne entsprechende Voraussetzungen zu schaffen, ohne Erfahrungswerte, unüberlegt, kostensparend!

Inklusion ja – aber bitte sinnvoll umgesetzt!

Text: Angelika Remiszewski