Die Frage ist nur, wie stark sie steigen wird. Das hängt von vielen Faktoren ab; unter anderem vom weiteren Verlauf des Infektionsgeschehens in den betreffenden Ländern und von den Maßnahmen der Industrienationen. In den Großstädten des Südens, wo sich Wellblechhütte an Wellblechhütte drängt, sich oft eine Großfamilie einen einzigen Raum teilt und es zum Waschen nicht nur an Seife, sondern sogar an Wasser mangelt, ist die Gefahr sehr hoch, dass die Infektionszahlen weiterhin exponentiell steigen.
Besonders wird es Menschen treffen, die im informellen Sektor arbeiten, also quasi von der Hand in den Mund leben und auf keinerlei Ausgleichszahlungen hoffen können. Das sind in zahlreichen Ländern über 50% der Bevölkerung. Sie arbeiten als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe, als fliegende Händler, Rikschafahrer oder Schuhputzer. Aber auch in der Industrie kommt es zu Massenentlassungen, nicht zuletzt weil die Nachfrage aus dem globalen Norden drastisch zurückgeht.
Oft gestellt wird die Frage, ob die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Einschränkungen gravierender sind als die gesundheitlichen Folgen durch das Virus selbst – ob also die Medizin schlimmer ist als die Krankheit. Für die Länder des Nordens ist sie zu verneinen, doch für viele Länder des Südens könnte man sie wohl aufgrund der Abhängigkeit vom Norden bejahen.
Die Welthungerhilfe befürchtet eine Verdoppelung der Zahl der Menschen, die an Hunger, an chronischer Unterernährung und an Auszehrung leiden. Und die UNO spricht angesichts all dieser Entwicklungen bereits von einem dramatischen Krisenszenario von ungeahntem Ausmaß.
Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller appelliert an das globale Gemeinschaftsgefühl: „Wir besiegen das Virus nur weltweit – oder nicht.“ Doch mit dieser Forderung stößt er vielfach auf taube Ohren, denn in der Krise ist sich meist jeder selbst der Nächste.
Wo Hunger wächst, da wächst auch medizinische Mangelversorgung. Da wächst auch Gewalt. Da wächst auch Sklaverei, Ausbeutung, Kinderarbeit und Kinderprostitution. Und nicht zuletzt steigen die Gefahren von Extremismus, Fundamentalismus und Bürgerkriegen.
Was können die Nationen des globalen Nordens überhaupt tun, um dem von der UNO beschriebenen Krisenszenario entgegenzusteuern?
Zunächst sollten sie von jeder Form protektionistischer Abschottung absehen. Der weltweite Handel muss möglichst aufrechterhalten und die Entwicklungshilfegelder aufgestockt werden. Noch stärker als zuvor muss der Welthandel auf faire und nachhaltige Grundlagen umgestellt werden, damit die Ärmsten der Armen bei künftigen Krisen besser abgesichert sind als heute.
Die Wahl von Joe Biden darf vielleicht als kleiner Hoffnungsschimmer in dieser Hinsicht gewertet werden. Aber es bedarf ehrgeiziger Hilfsprogramme, nicht nur PR-Aktionen und Wahlkampfreden. Es muss über Umschuldungsprogramme im großen Maßstab nachgedacht werden. Für die ärmsten Länder braucht es finanzielle Hilfen, um ökologische Landwirtschaft, lokale Produktion, Frauengleichstellung, Bildung und medizinische Versorgung sicherzustellen.
Entscheidend wird aber auch der Umgang mit dem Impfstoff sein. Schon jetzt haben die Länder der EU, die USA, China, Japan und Brasilien den Markt leergekauft – viele Entwicklungsländer bleiben voraussichtlich auch hierbei auf der Strecke und werden mit Überlastungen ihrer Gesundheitssysteme rechnen müssen.
Die internationale Solidarität muss gerade in Krisenzeiten ausgebaut werden, wenn Hilfe am nötigsten ist – auch weil wir uns ansonsten nur die Ausgangspunkte künftiger Krisenherde schaffen. Und diese zu verhindern, muss uns jetzt als Weltgemeinschaft oberste Priorität sein.