LIBANON AM ABGRUND – DIE VERDRÄNGTE HUMANITÄRE KATASTROPHE

Libanon – ein Land, nicht einmal halb so groß wie Hessen, aber mit mehr als sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Hinzu kommen nochmal an die zwei Millionen Geflüchtete. Die Bevölkerung ist religiös gespalten in Schiiten, Sunniten, maronitischen Christen, Drusen, Katholiken, Orthodoxe und Alawiten. Das Land hatte in den letzten Jahrzehnten Unglaubliches hinter sich: 15 Jahre herrschte Bürgerkrieg, bei dem rund hunderttausend Menschen ihre Leben verloren. Es gab syrische und israelische Besatzungen. Luftangriffe. Eine Revolution. Einen weiteren Krieg. Millionen von Geflüchteten aus Syrien. Eine Wirtschaftskrise. Die Corona-Pandemie und in Folge gigantische Arbeitslosigkeit und Inflation. Und dann, im Hafen der Hauptstadt Beirut, die größte nicht-atomare Explosion, die die Welt erlebt hat.

Große Teile der Stadt, die noch bis in die 80er Jahre hinein wegen ihrer Schönheit und Lebendigkeit das „Paris des Nahen Ostens“ genannt wurde, verwandelten sich in eine Trümmerwüste. Tausende Menschen wurden verletzt und Hunderttausende wurden obdachlos.

Mostapha Tamr, ein neununddreißigjähriger Libanese, der seine Jugend in Deutschland verbrachte und mit zwanzig zurück in den Libanon ging, lebt nur 1,5 km vom Ort der Detonation entfernt. Auch seine Wohnung wurde teilweise zerstört. Er schilderte uns die chaotischen Zustände in Beirut.

Die Corona-Krise, erzählt Mostapha, habe die Arbeitslosigkeit auf über 50 Prozent ansteigen lassen. Im Gegenzug seien die Preise explodiert. Viele Menschen könnten ihr Überleben nur durch Hilfslieferungen aus dem Ausland sicherstellen, doch eine korrupte Regierung und ebenso korrupte Verwaltungen sorgten dafür, dass die Lieferungen bei denen landeten, die sie am wenigsten nötig hätten, während die Ärmsten der Armen leer ausgingen. Viele Geflüchtete, die praktisch keine Rechte hätten, seien auf Almosen angewiesen oder lebten von dem, was sie zwischen den Abfällen fänden.

„Trotz Corona schlafen diese Leute auf der Straße – die bräuchten so dringend Hilfe!“ Oft handele es sich dabei um Kinder, die ohne Eltern ins Land gekommen seien. Sie gingen nicht zur Schule, könnten keinen Arzt oder Zahnarzt aufsuchen und besäßen nichts als das, was sie am Leibe trügen. Wenn jemand am Virus erkranke, dann ließe man ihn einfach auf der Straße sterben.

Dass sich in einer Gesellschaft, die vor dem Abgrund steht, kaum jemand um das Elend der Tiere sorgt, ist naheliegend. Mostapha berichtet: „Weil die Menschen selber nichts haben, müssen sich Hunde und Katzen von Abfällen ernähren – genauso wie Ziegen und Kühe, die eigentlich auf einer Weide stehen sollten. Sie essen die kläglichen Reste, die der Mensch übriggelassen hat und – Plastikmüll. Sie sind krank und unterernährt, aber die armen Tiere werden verkauft und geschlachtet. Und die Menschen essen dann wieder das Fleisch dieser Tiere, die sich von menschlichen Abfällen ernährt haben.“

Mostapha erzählt auch von Tieren, die durch die Explosion verletzt worden seien, sich ihre Beine gebrochen hätten. „Ja, es gäbe schon Tierärzte“ sagt er, „aber wer sollte die zahlen?“

Die Müllentsorgung und die Trinkwasserbereitstellung erfolgten nur noch rudimentär oder gar nicht. Und Abwässer würden einfach ins Mittelmeer geleitet. Ein entsetzlicher Gestank herrsche entlang der Küste.

Das Unfassbare ist, dass es in all dem Elend Beamte und Geschäftsleute gäbe, die in Saus und Braus lebten. Und obwohl dringend Wohnraum benötigt werde, bauten Investoren aus Saudi-Arabien dort, wo die Häuser von der Explosion zerstört worden seien, Hotels und Luxus-Quartiere.

Mostapha drückt seinen Schmerz über die Situation in poetisch-pessimistischen Worten aus: „Tränen der Nacht, fallen leise auf verbrannte Erde. Stumme Schreie voller Leid. Jeden Tag in diesem Land muss man sich neu erkämpfen und existiert doch nur, um wieder einen weiteren Tag zu überleben. Das hinterlässt nicht viel Licht in der Seele.

Die Menschheit, sie ist nicht einmal ein Wimpernschlag in der Erdgeschichte. Aber statt Gerechtigkeit, Güte und Frieden zu leben, nutzen viele ihre kurze Zeit, um durch Gier alles zu zerstören.“

So ganz scheint er aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben, denn er appelliert an seine Mitmenschen: „Bemüht euch, Würde, Stolz und Anstand nicht zu verlieren, damit ihr nicht abrutscht in die Dunkelheit, sondern etwas erhascht von dem ewigen Funkeln der Sonne.“